Künstliche Intelligenz ist wie Kriechöl; sie durchdringt alles, auch die Produktivität

Replik auf “KI beflügelt nicht primär die Produktivität, sondern mehr noch die Bürokratie

In seinem Artikel argumentiert Mathias Binswanger, dass künstliche Intelligenz (KI) derzeit nicht primär die Produktivität steigert, sondern stattdessen die Bürokratie fördert. Während es berechtigte Bedenken gibt, dass KI-Anwendungen neue bürokratische Prozesse schaffen könnten, vernachlässigt dieser Standpunkt eine wichtige historische Perspektive und unterschätzt das transformative Potenzial der KI.

“You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics”, meinte der Nobelpreisträger Robert Solow 1987. Damals waren Computer zwar noch nicht mobil aber in Banken und Industrie bereits allgegenwärtig. Und doch waren Produktivitätsfortschritte durch die IT bis weit in die 90er Jahre marginal. Als junger Ökonom habe ich 1994 die Auswirkungen von Computern auf die Schweizer Wirtschaft untersucht. Auch in der Schweiz waren die Effekte damals kaum messbar.

Es war eine Zeit, in der Musik noch physisch war: Compact Discs verdrängten gerade LPs und Kassetten, Musik kaufte sich in Läden wie CityDisc. Die Fraunhofer Gesellschaft hatte das digitale Format MP3 erst gerade veröffentlicht. Und das kommerzielle Internet steckte noch in den Kinderschuhen.

Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal eine CD gekauft? Heute ist Musik digital. Die CityDisc Geschäfte sind verschwunden. Gestreamt von grossen Plattformen, hören wir heute mehr Musik als je zuvor. Zwischen den beiden Zeitpunkten liegen ein Vierteljahrhundert und eine umfassende Dis- und Reintermediation einer ganzen Industrie. Mit verbundenem Produktivitätsgewinn.

Bahnbrechende Technologien führen auf kurze Sicht oft kaum zu Produktivitätssteigerungen. Es braucht Zeit, bis sie sich durchsetzen. Nach anfänglichem Hype folgt eine Phase des Anpassens und Integrierens, bevor der wirkliche Nutzen realisiert wird. Die Adoptionskurve gleicht einem langgezogenen S. Die gleichen Prinzipien gelten auch für die Anwendung von KI.

Aktuell befeuern drei Faktoren die KI-Adoption: Stetig billigere Rechnerleistung, immer stärkere KI-Modelle, z.B. die sogenannten Large Language Modelle, die hinter ChatGPT und ähnlichen Diensten stecken und eben seit deren Lancierung eine globale Aufmerksamkeit. Während die Entwicklung der allgemeinen künstlichen Intelligenz (AGI) noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird, zeigt die heutige spezifische KI bereits das Potenzial, tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen. Drei konkrete Beispiele aus der eigenen Arbeitserfahrung:

  • Bank in Singapur: Die Bearbeitungszeit für die Überprüfung von KMU-Krediten wird von 60 auf 3 Minuten reduziert mit gleichzeitig stark reduzierter Fehlerquote
  • Europäischer Telekommunikationskonzern: Kundenprobleme, die im Durchschnitt 6 Stunden zur Klärung benötigten, werden nun in weniger als 1 Stunde bearbeitet, bei messbar höherer Kundenzufriedenheit
  • Industrieunternehmen in den USA: Die Erstellung einer Stückliste (Bill of Materials) wird um 80 % beschleunigt, mit stark gesunken Prozesskosten

Das ist erst der Anfang. Im Gegensatz zu früheren digitalen Technologiesprüngen, die sich mit «schneller, besser, billiger» zusammenfassen lassen, ist die aktuelle KI-Umwälzung anders. Jedes Unternehmen kennt die Situation: Verschiedene IT-Systeme, die nicht miteinander kompatibel sind. Entsprechend mühsam gestalten sich übergreifende Systemintegrationen. Was für uns Menschen einfach ist – Mit unpräzisen Informationen umgehen können – kann ein bisheriges Computersystem nicht. Das ändert sich gerade radikal.

Wer sagt denn, dass nur ein Mensch mit einer Maschine «chatted» und nicht eine Maschine mit einer Maschine? Dieser Eigenschaft wird heute noch kaum Beachtung geschenkt. Sie ist vergleichbar mit Kriechöl. Anstatt in feinste Ritzen wie Kriechöl, dringt die KI allmählich in jeden Prozess ein und lässt ihn sowohl effizienter wie auch effektiver gestalten. Wir werden in naher Zukunft erleben, wie IT-Systeme mit anderen IT-Systemen selbständig Aufgaben erledigen.

Dabei wird Regulation eine Rolle spielen. In Analogie zur Luftfahrt: Menschen sind nicht geschaffen für eine Welt in 10’000 Metern Höhe: zu kalt, zu wenig Druck. Und doch steigen wir unbekümmert in ein Flugzeug, das sich in dieser Höhe bewegt. Mit ein Hauptgrund sind Regulationen und Regulatoren, die mitgewirkt haben, dass Fliegen sicher ist. Gescheite KI-Regulation wird ähnliches bewirken.

Die in den genannten Beispielen geschilderten Stückkostenvorteile sind so substanziell, dass jedes Unternehmen, sie sich letztendlich sichern will, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben. Entgegen der bisherigen «linearen» Einführung von IT, werden wir wie in der Musikindustrie, mittels dieser ‘neuen’ KI die Rekonfiguration ganzer Wertschöpfungsketten erleben, inklusive Produktivitätsgewinne.

Quellen

Produktivität
https://www.bls.gov/opub/ted/2002/apr/wk5/art04.htm

https://www.frbsf.org/research-and-insights/publications/economic-letter/2015/02/economic-growth-information-technology-factor-productivity

https://weissenberg-group.de/produktivitatsparadoxon/

https://weissenberg-group.de/produktivitatsparadoxon/

Musikindustrie

https://www.weforum.org/agenda/2023/03/charted-the-impact-of-streaming-on-the-music-industry/

https://www.ft.com/content/77768846-a751-45ec-9a12-20fff27ddefb

Über dselz

Husband, father, internet entrepreneur, founder, CEO, Squirro, Memonic, local.ch, Namics, rail aficionado, author, tbd...
Dieser Beitrag wurde unter Uncategorized veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.